Wissensverbreitungskluft

Letztes Semester habe ich ein Kommunikationswissenschaftliches Praktikum besucht, bei dem auch empirisch gearbeitet wurde. Insgesamt wurden 402 Personen online befragt und jeder Studierende musste dazu passend die Daten auswerten. Ich habe mich auf die Nachrichtenverbreitung in Sozialen Netzwerken konzentriert und dabei eine besonders interessante Auswertung erhalten.

Letztes Semester habe ich ein Kommunikationswissenschaftliches Praktikum besucht, bei dem auch empirisch gearbeitet wurde. Insgesamt wurden 402 Personen online befragt und jeder Studierende musste dazu passend die Daten auswerten. Ich habe mich auf die Nachrichtenverbreitung in Sozialen Netzwerken konzentriert und dabei eine besonders interessante Auswertung erhalten:

Finanzielle Mittel verglichen mit Nachrichtenverbreitung in Sozialen Netzwerken

Dieses Balkendiagramm zeigt uns, dass Personen die über 1000 Euro im Monat zur Verfügung haben signifikant häufiger in Sozialen Netzwerken Nachrichten verteilen als Personen die maximal 1000 Euro im Monat haben.[ref name=“Statistik“]Zur Methode: Im Fragebogen wurde das monatliche Einkommen folgend ordinalskaliert abgefragt: bis zu 500 Euro, 501-1000 Euro, 1001-1500 Euro und über 1500 Euro. Die Verbreitung in Sozialen Netzwerken wurde intervallskaliert mittels einer fünftstufigen Skala von häufig bis nie abgefragt – jeweils Facebook, Twitter und Andere Soziale Netzwerke getrennt. Beide Skalen wurden von mir in SPSS gruppiert und mittels Kreuztabelle verglichen sowie ein Chi-Quadrat-Test durchgeführt. Dieser Test ergab ein signifikantes Ergebnis, die Irrtumswahrscheinlichkeit beträgt lediglich 1,9%.[/ref] Für mich ergibt sich dadurch überraschende Anknüpfungsmöglichkeiten an die bekannte Wissenskluft-Hypothese und deren Weiterentwicklung, der „Digitalen Kluft“-Hypothese.

Wissenskluft und Digitale Kluft
Die Wissenskluft-Hypothese wurde erstmals von einem Forscherteam der Minnesota-University formuliert. Die Forscher gehen davon aus, dass der Wissenszuwachs von statushöheren Segmenten der Bevölkerung schneller wächst, als der von statusniedrigeren Segmenten. Grund dafür sei die zunehmende Informationsdichte der Massenmedien und deren unterschiedliche Rezeption. Die Befürchtung ist daher, dass Medien in diesem Aspekt dysfunktional für die allgemeine gesellschaftliche Entwicklung sind. (vgl. Bonfadelli, 2002: S. 568ff)[ref name=“Bonfadelli“]Bonfadelli, Heinz (2002): Die Wissenskluft-Perspektive. In: Michael Schenk (Hg.): Medienwirkungsforschung. 2., vollständig überarb. Auflage. Tübingen: Mohr Siebeck. S. 568–598[/ref] Diese Besorgnis reicht soweit, dass sogar von einer neuen Informationselite gesprochen wird, denn die „Informationsreichen“ werden reicher, die „Informationsarmen“ hingegen immer ärmer. Wichtig: In Bezug auf die Kluft zwischen den beiden Gruppen, nicht absolut an Wissen. (vgl. Schulz, 1990: S. 149) [ref name=“Schulz“]Schulz, Winfried (1990): Mehr Medien machen nicht mündiger. In: Die alltägliche Pressefreiheit. Von der Verantwortung der Zeitungsmacher, Bd. 1. Bonn: Bundeszentrale für Politische Bildung, S. 147–155.[/ref] Eine Weiterentwicklung der Wissenskluft-Hypothese firmiert unter dem Schlagwort „Digital Divide“. Digital Divide, auch Digital Gap oder digitale Kluft genannt, beschreibt eine neue Kluft, die sich aufgrund des unterschiedlichen Zuganges zu den neuen Informations- und Kommunikationstechnologien auftut. (vgl. Jäckel, 2008: S. 303f) [ref name=“Jäckel“] Jäckel, Michael (2008): Medienwirkungen. Ein Studienbuch zur Einführung. 4., überarbeitete und erw. Auflage.Wiesbaden: VS, Verlag für Sozialwissenschaften.[/ref]

Vom Konsumenten zum Prosumenten
Beide Hypothesen stammen aus einer Zeit, in der „Social Media“ keine große Rolle gespielt haben. Die Gatekeeper-Funktion (-Macht?) der Medien befindet sich aber in einem fortschreitenden Wandel. Nachrichten werden zunehmend über neue Kanäle verteilt und nicht nur mehr über die traditionellen Medien. Die ehemaligen Konsumenten werden gleichzeitig Produzenten: Der Prosument entsteht! [ref source=“Prosument“]Prosument ist ein Kofferwort aus Produzent und Konsument, geprägt in 1980 von Alvin Tofflers „The Third Wave“. Toffler verstand den Begriff dahingehend, dass Konsumenten Sach- oder Dienstleistung nicht nur erwerben, sondern auch – in Hausarbeit – selbst produzieren. (vgl. Blättel-Mink, Birgit (2010): Vorwort. In: Blättel-Mink, Birgit; Hellmann, Kai-Uwe (Hg.): Prosumer Revisited. Zur Aktualität einer Debatte. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften / GWV Fachverlage GmbH. S. 7-9) [/ref] Diese Prosumenten verteilen Texte, Bilder, Audio und Video über das Internet. Aber es gibt auch hier Unterschiede, denn manche „prosumen“ mehr als andere, sprich manche teilen bzw. verbreiten mehr Inhalte. Ganz besonders wichtig dabei: Manche bekommen viel mehr Aufmerksamkeit für ihre verteilten Informationen als andere!

Wissensverbreitungskluft
Und damit schließt sich der Kreis zu meiner Grafik und der Wissenskluft-Hypothese. Die Forschung sieht momentan nur eine Digitale Kluft bei der Informationssammlung, dadurch entstünde eine Elite die mehr weiß als andere. (In diesem Zusammenhang wird häufig auf den unterschiedlichen Wissenszugang von Industrienationen und Entwicklungsländern hingewiesen.) Was aber, wenn die Forschung eine viel wesentlichere Kluft übersieht? Nämlich die der Wissensverbreitung, die ja auch immer eine Meinungsverbreitung beinhaltet? Genau darauf scheint nämlich das Ergebnis des Fragebogens hinzuweisen. Was, wenn die neue Elite nicht Menschen sind die viel Wissen haben, sondern dieses Wissen auch effizient und schlagkräftig verteilen können? Und das bringt uns zu einem neuen Aspekt: Wer Wissen verbreiten kann, weiß auch wo dieses Wissen zu finden ist. Das ist besonders hervorzuheben, denn ich bin überzeugt: Wir treten in ein Zeitalter ein, indem nicht mehr das im Gehirn gespeicherte Sachwissen entscheidet, sondern das Wissen darüber, wo wir diese Sachinformation finden und wie wir diese Informationen am effizientesten aufnehmen bzw. verarbeiten. Wissen ist Macht, so hieß es früher – heute könnte man sagen: Wissen über das Wissen ist Macht.

Ökonomisch bessergestellte Menschen als Wissensverbreiter
Menschen mit mehr finanziellen Mitteln scheinen jedenfalls mehr Möglichkeiten oder Motivation zu finden in Sozialen Netzwerken Nachrichten zu verbreiten. Für zukünftige Forschungsarbeiten ergibt diese Erkenntnis jedenfalls spannende Anknüpfungspunkte: Warum etwa sind Personen mit größeren finanziellen Mittel motivierter auf Sozialen Netzwerken Nachrichten zu verbreiten? Sind diese Personen Multiplikatoren; wird also das was sie weiterverbreiten wiederum von anderen weiterverbreitet? Und sind Online-Meinungsführer auch Meinungsführer in ihrem privaten Umfeld? Gibt es tatsächlich eine Wissensverbreitungskluft und wenn ja, ist diese dysfunktional für die Gesellschaft?